Schwachstellen im Fürsorge- und Vormundschaftswesen?

Burgdorfer Tagblatt April 1998

Objektivität und Entscheide fern jeder Ideologie werden im Bereich Fürsorge / Vormundschaft wohl angestrebt, aber immer wieder tauchen brisante Fälle in der Presse auf, die Fragen zur Kompetenz der Gemeindebehörden in diesem Bereich aufwerfen.

Als der Aefliger Gemeinderat Urs Pauli sich nicht scheute, der Presse mitzuteilen, welche Fürsorgeleistung eine Asylantenfamilie bezog, meldeten sich kritische Stimmen, Pauli habe seine Schweigepflicht verletzt. Pauli macht keinen Hehl aus der Tatsache, dass er im Clinch mit dem kantonalen Fürsorgeamt steht, und dies bescherte ihm sogar ein gutes Wahlresultat. Um Pauli ist es nun wieder ruhiger geworden, dafür berichtete die «Berner Zeitung» kürzlich über den «Ferrari-Fall»: der Fürsorgevorsteher der Gemeinde Heimberg wurde wegen seiner indiskreten Äusserungen über einen Fürsorgebezüger wegen Amtsgeheimnisverletzung gebüsst.

Kinder in Ausschaffungshaft? In der Gemeinde Lützelflüh wagte ein Gemeinderat die leichtfertige Äusserung, er hoffe, dass die siebenköpfige Asylantenfamilie Gashi in Ausschaffungshaft genommen werde («Burgdorfer Tagblatt» vom 17. März). Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Gemeinderat nicht namentlich genannt sein wollte, denn diese Härte macht stutzig: Können Kinder tatsächlich in Ausschaffungshaft gesteckt werden?

Dazu Kurt Jaggi, Vorsteher des kantonalen Fürsorgeamtes: «Nach gesetzlicher Grundlage ist es nicht möglich, Kinder unter 15 Jahren in Ausschaffungshaft zu nehmen! (Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, Art. 13c, Abs. 3.)» Mit seiner Äusserung ist der Gemeinderat aus Lützelflüh eindeutig in ein Fettnäpfchen getreten. Für grosses Aufsehen sorgte ein Artikel im «Beobachter» über die Tragödie eines erwachsenen Sohnes, der in der Villa seiner reichen und einflussreichen Mutter in totaler Isolation dahinvegetierte. Das Vormundschaftsamt Biel geriet deswegen arg unter Beschuss. Dieser Fall war spektakulär genug, um als «sda»- Meldung weitergeleitet zu werden.

Extremfälle Es kam sogar schon zu tragischen Todesfällen, weil die Behörden schlicht überfordert waren: in Wohlen bei Bern wurde ein Sozialarbeiter von einem verärgerten Asylbewerber erschossen. In Zürich wurde das Baby einer drogensüchtigen Frau verhungert in deren Wohnung aufgefunden, obschon diese Mutter einen Beistand hatte. In Bern wurde eine 19jährige Kurdin von ihrem fun-damentalistischen Vater erstochen, obschon die Behörden von dessen Morddrohungen wussten.

Ideologischer Machtmissbrauch Im Laufe der Geschichte kam es immer wieder zu ideologischem Machtmissbrauch im Bereich Fürsorge/Vormundschaft. Kaum jemand wird bestreiten, dass bei den Hexen- und Ketzerverfolgungen Ideologie im Spiel war. Das neue Buch von Eveline Hasler «die Vogelmacherin» bringt an den Tag, dass sogar Kinder als Hexenkinder verfolgt wurden! Wenn die Missstände weit weg von der Gegenwart liegen, fällt eine kritische Betrachtungsweise nicht besonders schwer. Der Zynismus «Zustände wie zu Gotthelfs Zeiten» ist weit verbreitet, allgemein entsetzt man sich etwa über die Schicksale der armen Verdingkinder. Je näher die Missstände aber bei der Gegenwart liegen, um so schwerer tut man sich mit Kritik. Der Begriff «Administrativjustiz» des Dichters C. A. Loosli (1877-1959) hat wenig Furore gemacht. Als uneheliches Kind machte Loosli einschlägige Erfahrungen mit seinem Sumiswalder Vormund und diversen «Anstalten» (u.a. die Zwangserziehungsanstalt Trachselwald). Die Lektüre seiner sozialkritischen Schriften ist leider immer noch ein Geheimtip. Auf die Tatsache, dass Bundesrat von Steiger veranlasste, den jüdischen Flüchtlingskindern während des zweiten Weltkrieges ein «J» in den Pass zu stempeln, um die Schweiz vor der «Verjudung» zu schützen, darauf ist gewiss niemand stolz, es wurde auch lange versucht, diese Tatsache zu vertuschen.

Verfolgung der Jenischen Dasselbe gilt für die Aktion «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», in der den Jenischen die Kinder entrissen, unter Vormundschaft gestellt und in Pflegefamilien, Heime oder psychiatrische Kliniken gesteckt wurden. Diese haarsträubende Aktion wurde von Behörden, Pro Juventute und Psychiatrie durchgeführt und nachträglich wurde auch hier versucht, alles zu vertuschen. Der Hartnäckigkeit des «Beobachters» und der Schriftstellerin Mariella Mehr (selbst Opfer der Aktion) ist es zu verdanken, dass eine historische Aufarbeitung eingeleitet wurde. Ein entsprechender Historikerbericht wurde soeben vorgelegt.

Noch vor zehn Jahren wurde bei der Erziehungsberatung in Bern behauptet, Behörden hätten nie etwas mit dem «Hilfswerk» zu tun gehabt. Auf Anfrage beim Rechtsdienst der Erziehungsdirektion (der die Erziehungsberatung unterstellt ist) wird erneut versucht, die ganze Verantwortung für das Hilfswerk auf die Pro Juventute zu schieben. Erst nach einem Verweis auf den Historikerbericht wird diese Aussage relativiert. Der nicht namentlich genannt sein wollende Jurist bezweifelt zuerst, dass auch der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst der Uni Bern oder die Kantonale Erziehungsberatung Bern Gefälligkeitsgutachten für die Aktion Kinder der Landstrasse gemacht haben könnten, renkt dann aber ein, es bestünden keine wissenschaftlichen Daten zu diesem Thema.

Die drei Zürcher Historiker kritisieren in ihrer Studie über das Hilfswerk, nicht das Kindswohl sei im Zentrum der Massnahmen gestanden, sondern «das gesellschaftspolitische Ziel, eine nicht genehme Lebensweise zu zerstören». Wenn man bedenkt, dass das «Liebeswerk» erst 1973 gestoppt wurde, darf man sich zurecht fragen, ob gesellschaftspolitisch motivierte Kindesschutzmassnahmen auch heute noch möglich sind.

Heikler vormundschaftlicher Kindesschutz Die Befugnisse der Vormundschaftsbehörden, sich in die Erziehung der Kinder einzumischen, ist auch heute noch beträchtlich. Folgende Instrumente stehen nach ZGB zur Verfügung: Erziehungsaufsicht, Beistandschaft, Obhutsentzug bis hin zum Entzug der elterlichen Gewalt. Gegen eine sogenannte Kindesschutzmassnahme kann beim Regierungsstatthalter Beschwerde geführt werden, was aber oft ein langwieriges Verfahren nach sich zieht.

Kindesschutzmassnahmen sind nach wie vor eine heikle Angelegenheit, denn die politische Verantwortung für Verfügungen der zuständigen Sozialdienste  trägt die Vormundschaftskommission. Die Gemeinderäte und Gemeinderätinnen der Vormundschaftskommission brauchen nicht über eine pädagogische Ausbildung zu verfügen. Ihr persönlicher Erfahrungshintergrund, ihre politische und moralische Einstellung wird somit ihre Entscheide mitprägen. Zudem gewähren Ausdrücke wie «Wohl des Kindes» und «Unzumutbarkeit» einen riesigen Ermessensspielraum. Im Asylwesen ist der Missbrauch ein politisches Dauerthema, es gilt, die Tricks zu bekämpfen, mit denen die Behörden hinsichtlich Asylgewährung benutzt werden; der Nationalrat hat einen entsprechenden Dringlichkeitsbeschluss bereits gutgeheissen. Auch im Projekt «Integrale Ueberprüfung des Fürsorgewesens und neue Perspektiven» wird der Missbrauch behandelt. Der Mechanismus des Missbrauchs ist bei Kindesschutzmassnahmen ebenfalls möglich: Es ist ein leichtes, herauszufinden, welche Argumente bei den Vormundschaftsbehörden gerade ankommen. Es ist auch nicht schwierig, Kindern einzuhämmern, was sie bei den Behörden zu sagen haben. Wie die Aussagen der Kinder bewertet werden, wird der Willkür der Vormundschaftsbehörden überlassen: beim «Liebeswerk» wurde der meist herzzerreissende Protest der Kinder nicht gewürdigt, andererseits ist es durchaus möglich, eine Kindesschutzmassnahme allein mit den Aussagen der Kinder zu rechtfertigen, ohne nachzuforschen, ob jemand aus dem Umfeld aufgrund eigennütziger Motive die Kinder manipuliert haben könnte. Die pädagogische Psychologie kann wissenschaftlich belegen, dass das Schulsystem einer Nation die politischen Machtverhältnisse einer Nation widerspiegelt. Zum Beispiel wird es in vielen Ländern als richtig angesehen, dass Kinder mit 2 bis 3 Jahren in den Kindergarten eintreten, mit 5 Jahren eingeschult werden und eine Schuluniform tragen. Auch auf Gemeindeebene ist bei der Thematik «richtige Erziehung» Ideologie im Spiel. Dass die Gemüter sich gerade bei Erziehungs- und Schulfragen besonders erregen und dass die Stimmbeteiligung ausgerechnet bei solchen Fragen sehr hoch ist, dafür gibt es genügend aktuelle Beispiele: der erbitterte (und erfolglose) Kampf um eine Kindertagesstätte in Münchenbuchsee und der nicht weniger erbitterte, aber ebenfalls erfolglose Kampf um die Erweiterung des Schlossmattschulhauses in Burgdorf. In Moosseedorf kam es anlässlich der Wahl der neuen Schulsekretärin gar zu 3 Rücktitten aus der Schulkommission.

Befugnis Kinderalimente Die Vormundschaftsbehörde ist befugt, Kinderalimente zu bevorschussen. Laut Marco Zingaro, stellvertretender Vorsteher des Kantonalen Jugendamtes, ist sie aber nicht befugt, gerichtlich festgelegte Alimente abzuändern, ausser sie würde dies mit Einverständnis beider Elternteile neu verfügen. Beim Untersuchungsrichteramt Emmental – Oberaargau ist eine Strafanzeige wegen Vernachlässigung  Unterstützungspflichten hängig, und zwar gegen einen geschiedenen Vater, der bei der VB seiner Wohnsitzgemeinde einen Obhutsentzug beantragt hatte. Brisantes Detail: Der jüngere Sohn lebt seit bald zwei Jahren auf dem Bauernhof der verwitweten Ex-Schwiegermutter in einer anderen Gemeinde, ohne Pflegevertrag. Eine Anfrage bei der Einwohnerkontrolle der Wohnsitzgemeinde des Vaters ergibt: das 10jährige Kind sei in der Gemeinde der Grossmutter Wochenaufenthalter. Dies ist eine politisch unkorrekte Auskunft: die Plazierung eines 10jährigen Kindes bei der Grossmutter unterliegt der Bewilligungspflicht für Pflegekinder, wie sie das Kantonale Jugendamt regelmässig in den Amtsanzeigern publiziert.

Bewilligungspflicht für Pflegekinder Ausnahmen von dieser Bewilligungspflicht gibt es laut Marco Zingaro ausschliesslich im Asylbe-reich. Insbesondere gilt diese Bewilligungspflicht auch für Grosseltern, und zwar ausdrücklich vor der Aufnahme des Kindes. Die Formulierung «vor der Aufnahme» kommt nicht von ungefähr, denn Kinder gewöhnen sich schnell an ein neues Umfeld, und es gilt zu verhindern, dass eine Umplazierung  erzwängt wird, indem  Kinder vorgängig verwöhnt und dahingehend beeinflusst werden, das angestammte Umfeld bei den Behörden als unzumutbar zu bezeichnen. Trotz klaren gesetzlichen Bestimmungen kommt es in diesem Bereich immer wieder zu Missbräuchen. Eine finanzielle Genugtuung kann aber niemals für das Seelenleid entschädigen, das ein unverhältnismässiger Obhutsentzug angerichtet hat! So eine verbitterte Mutter im «Beobachter» Das Prinzip der Verhältnismässigkeit  wird  gerade bei pubertierenden Kindern schnell verletzt – wieviel Zoff mit den Eltern oder dem erziehungsberechtigten Elternteil ist in der Pubertät eigentlich «normal»?

Sonderfall Scheidungskinder Scheidungskinder erhalten von den Behörden zwangsläufig eine besondere Aufmerksamkeit. Viele Scheidungsrichter erkundigen sich bei der zuständigen Vormundschaftsbehörde, und diese kann das Errichten einer Erziehungsbeistandschaft verlangen. Es kann durchaus vorkommen, dass Personen über Scheidungskinder entscheiden, die eine Scheidung für moralisch verwerflich halten. Diese Haltung wird die Entscheide beeinflussen und wird auch den Kindern nicht entgehen. Im Emmental ist die Meinung noch verbreitet, eine geschiedene Mutter erhaltene automatisch einen Beistand, eine solche gesetzliche Pflicht gibt es nicht, aber in einem konservativen Umfeld wird vermutlich häufiger eine Kontrolle durch einen Beistand gewünscht. Im Berner Projekt «Frauenlos – der Rundgang zum Jubeljahr» wird darauf hingewiesen, dass die Geschlechtsbeistandschaft erst 1847 abgeschafft wurde – zuvor benötigten alle mündigen unverheirateten Frauen (damals vorwiegend Ledige und Witwen) einen Beistand.

Leider gibt es keine historische Untersuchung zur Erziehungsbeistandschaft, so dass nachgeforscht werden könnte, ob gewisse Komponenten der abgeschafften Geschlechtsbeistandschaft im Kleid der Erziehungsbeistandschaft weitergeführt wurden.

Leider kommt es immer wieder vor, dass die gemeinsamen Kinder zum Zankapfel unter geschiedenen Eltern werden. Am spektakulärsten sind die Kindesentführungen ins Ausland durch getrenntlebende oder geschiedene Väter. Das Kreisgericht Belp bestrafte im vergangenen Februar einen Vater wegen Kindesentführung, gewährte ihm andererseits trotzdem das Sorgerecht, weil die Mutter für das Kind eine fremde Frau geworden war. Wenn der verlassene Elternteil in einen Scheidungsschock verfällt, neigen die Kinder nicht selten dazu, diesen Teil zu bemitleiden. Wenn beide Elternteile eine stabile neue Partnerschaft eingehen, werden die Kinder weniger durch die emotionalen Probleme ihrer Eltern belastet. Es ist durchaus möglich, dass Kinder die Trennung ihrer Eltern mit positiven Veränderungen und neuen Entwicklungsmöglichkeiten assoziieren. Die Scheidungssituation kann bei den Kindern die eigene Entwicklung beschleunigen und Eigenschaften wie Toleranz und Flexibilität fördern. So erlebte beispielsweise die Tochter des berühmten «Joop!» die Scheidung und die neu eingegangen Partnerschaften ihrer Eltern positiv. Leider wird eine Scheidung landläufig ausschliesslich mit (dem selbstverständlich dazugehörenden) Schmerz assoziiert. Ausserordentlich komplex wird die Scheidungssituation, wenn noch traumatische Ereignisse wie zum Beispiel ein Todesfall dazukommen. In solchen Fällen neigen Kinder eher dazu, sich an das Vertraute zu klammern und sich gegen jede weitere Veränderung (wie zum Beispiel einen Umzug) zu sträuben. In Oberburg hat die Vormundschaftsbehörde nach dem Tod der sorgeberechtigten Mutter die Grosseltern als Pflegeeltern eingesetzt ohne den Vater anzuhören – ein Entscheid der später vor Gericht als nichtig erklärt wurde. Dem neu verheirateten Vater wurde das Sorgerecht zugesprochen, aber das Urteil hat bisher immer noch nicht vollstreckt werden können, die beiden Kinder leben weiterhin bei den Grosseltern in Oberburg,  gehen dort zur Schule und verbringen bloss die Wochenenden beim Vater in einer anderen Gemeinde.

Ein Artikel in der «Berner Zeitung» über einen erfolglosen Vollstreckungsversuch an Weihnachten hat sehr viel Aufsehen erregt. Die Vormundschaftsbehörde Oberburg akzeptiert zwar das Gerichtsurteil, fühlt sich aber nicht mitverantwortlich dafür, dass es nicht vollstreckt werden kann; ein Lehrer versucht zu vermitteln. Für Regierungsstatthalter Franz Haussener ist die Angelegenheit «nicht ordnungsgemäss erledigt», solange das Urteil nicht vollstreckt ist.

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